Ei­gene Wege gehen…

Sonn­tag, 16.03.25 -> Eng­lish version

Es sind nun drei Wo­chen, die ich un­ter­wegs bin, und die letzte war vol­ler Her­aus­for­de­run­gen und Ideen für neue Wege, beim Wan­dern und im Le­ben. Heute am Sonn­tag Nach­mit­tag reg­net es, und ich finde es rich­tig gut. Ich sitze in Santa Cruz, Sil­veira auf dem Bett in mei­nem Ho­tel­zim­mer und hänge ab. Und finde das rich­tig gut.

Fan­gen wir ganz von vorne an. Letzte Wo­che Mon­tag in Lis­sa­bon gab es über sämt­li­che mei­ner In­for­ma­ti­ons­ka­näle Un­wet­ter­war­nun­gen für die Küs­ten­re­gion im Um­kreis von 100 km. Ich ver­län­gerte da­her spon­tan mei­nen Auf­ent­halt in Lis­sa­bon und blieb bis Mitt­woch mor­gen. Statt meine erste ganz ei­gene Etappe zu wan­dern, be­suchte ich am Mon­tag das dort viel be­schrie­bene und er­wähnte Oce­aná­rio de Lis­boa. Ein Ocea­neum mit dem größ­ten In­door-Aqua­rium Eu­ro­pas, fast 5 Mio Li­ter Mee­res­was­ser, über zwei Eta­gen, mit Haien, Ro­chen, Thun­fi­schen, Mond­fi­schen, Mola Mola…

Und ich war ge­schockt. Ich weiß nicht, ob ich mehr von mir ge­schockt war, dass ich nicht ahnte, dass dies wirk­lich gar nichts für mich ist, oder ob es die Si­tua­tion dort im Ocea­neum selbst war. Wahr­schein­lich bei­des. Das Wet­ter am Mon­tag war wie vor­her­ge­sagt schlecht, und da­her war das Ocea­neum sehr voll. Die Men­schen dräng­ten sich in Trau­ben vor die Fens­ter des Aqua­ri­ums, al­ler­dings ohne wirk­lich hin­ein­zu­se­hen und Kon­takt auf­zu­neh­men. Sie schau­ten durch ihre Han­dys und film­ten, oft mit sich selbst da­vor po­siert, mit künst­li­chem Lä­cheln dazu. Und zo­gen schnell wei­ter. Die Fi­sche wa­ren wahr­lich wun­der­schön, rie­sig und be­acht­lich, aber sie sa­hen alle so un­fass­bar trau­rig aus. Sie schwam­men im­mer und im­mer wie­der sehr apa­thisch im Kreis. Aus ih­rer Per­spek­tive konn­ten sie uns Men­schen nicht se­hen, so­dass so man­ches Hai­auge und so man­cher trau­ri­ger Fisch­mund­win­kel di­rekt vor mei­nem Auge er­schien und lang­sam an mir vor­bei­zog. Hal­tet mich nicht für ver­rückt, denn in Fil­men von Un­ter­was­ser­wel­ten im freien Ozean habe ich mich schon oft für Fi­sche und an­dere Mee­res­tiere be­geis­tert. Diese hat­ten aber glück­li­che Ge­sichts­aus­drü­cke, fröh­li­che Au­gen, eine schöne Ge­sichts­mi­mik, ent­spannte Mundwinkel. 

Ich hielt es ge­nau 30min in die­sem Ge­bäude aus und bin flucht­ar­tig Rich­tung Stadt­zen­trum ver­schwun­den. Im Uber sit­zend fragte mich der Fah­rer, ein sehr jun­ger Bra­si­lia­ner, wie ich das Ocea­neum fand, und ich ant­wor­tete ehr­lich. Er lä­chelte wäh­rend­des­sen mit ei­nem Glän­zen in sei­nen Au­gen und sagte, seine Fa­mi­lie be­zeichne ihn öf­ter als au­tis­tisch, weil er “auch” Pro­bleme mit die­ser Art von Men­schen­grup­pen habe und die Flucht in die Ein­sam­keit und Na­tur su­che. Er be­dankte sich bei mir beim Ver­ab­schie­den für das Ge­spräch und die Auf­for­de­rung (zwi­schen den Zei­len?), sich mehr um seine ei­ge­nen Be­dürf­nisse zu küm­mern und nun end­lich mehr die Na­tur und die Stille auf­zu­su­chen. Wie schön! Ich hatte je­man­den in­spi­riert, sich selbst ernst zu neh­men und in Kon­takt mit sich selbst zu kom­men. Das freute mich sehr.

Die nächs­ten ein ein­halb Tage in Lis­sa­bon sehnte ich mich nach men­schen­lee­rer Küste, Wie­sen, Strand, Fel­sen und Meer.

Na­tur­ge­wal­ten, Stock­fle­cken und ge­schlos­sene Räume

End­lich wie­der auf der Wan­de­rung zu mei­nem nächs­ten Ort am Mitt­woch, na­mens “Praia das Ma­çãs”, schlu­gen am At­lan­tik noch hef­ti­gere Wel­len ge­gen Fel­sen und Klip­pen, durch vor­he­rige Re­gen­was­ser­fälle wa­ren Bä­che über­flu­tet, Wege ver­schlammt. Meine erste ei­gene Etappe war an­stren­gend, aber wun­der­bar rauh, der Ziel­ort, im Som­mer ein wei­te­rer in­ter­na­tio­na­ler Surf­point, war men­schen­leer und wunderschön.

Meine Un­ter­kunft schien wie im­mer sau­ber, aber lei­der auch wie­der ex­trem kalt und feucht. Es gab sehr viele Stock­fle­cken, und zu al­le­dem konnte ich kein Fens­ter öff­nen, da es nur ein Dach­fens­ter gab, was elek­tro­nisch ge­steu­ert bei be­stimm­ten feuch­ten Au­ßen­tem­pe­ra­tu­ren gar nicht öff­net. Ver­zweif­lung brei­tete sich in mir aus. Ein Hin und Her mit der Ver­mie­te­rin klärte: Ich musste die Nacht in die­sem Raum ohne of­fe­nes Fens­ter ver­brin­gen. Für mich nerv­lich tat­säch­lich eine Zer­reiß­probe, Nach 8 Stun­den Wan­dern mit “nor­ma­len” Wid­rig­kei­ten, meine ei­gene Etappe bis hier hin war auf Ko­moot als rot bis schwarz mar­kiert, war ich er­schöpft und fer­tig. Das Schwei­gen und die Ein­sam­keit, seit vie­len Ta­gen kein Mensch, mit dem ich et­was län­ger spre­chen konnte, er­schwer­ten ei­nen leich­ten Um­gang mit der Gesamtsituation.

Ein gro­ßer Tank vol­ler Lebensenergie

Da ich we­der Al­ko­hol trinke noch rau­che, um mich et­was zu ent­span­nen, blieb mir nichts an­de­res üb­rig, als Kekse zu es­sen und mich stun­den­lang auf You­Tube zu be­we­gen, im In­ter­net nach al­ter­na­ti­ven Rei­se­blogs und Rei­se­tipps für Por­tu­gal zu su­chen, viel zu le­sen und an­zu­schauen. Wie schon in den ers­ten zwei Wo­chen schlief ich wie­der­holt sehr spät in der Nacht ein und stand nach sehr kur­zer Nacht früh am Mor­gen auf, um so schnell wie mög­lich auf die nächste Wan­der­piste zu ge­lan­gen. An der fri­schen Luft zu sein, ein­fach nur zu ge­hen. Ich wusste, das be­ru­higt mich, da komme ich wie­der bei mir an. Das tat es.

In den nächs­ten Stun­den und Ta­gen dachte ich wei­ter viel über meine Si­tua­tion hier auf mei­ner Reise nach, über diese ex­tre­men Un­ter­schiede, die ich hier er­lebe. Drau­ßen auf den Wan­der­we­gen tie­fer Frie­den, Ruhe, Fröh­lich­keit, wie ich sie nur aus mei­ner Kind­heit kenne. Das freie At­men und Er­le­ben von Na­tur und Stille, wie ein gro­ßer Tank vol­ler Le­bens­en­er­gie, eine ste­tige Be­we­gung und Be­we­gungs­lo­sig­keit zu­gleich. Tiere auf dem Weg ge­ben mir mein Lä­cheln und so­gar spon­tan lau­tes La­chen wie­der zu­rück. Frei­lau­fende lus­tige schwarze Schweine im Dorf, Esel, Schafe, zahme Mö­ven 30 cm vor mir auf der Mauer sit­zend, mich lus­tig be­äu­gend, ob ein Krü­mel vom Keks abfällt. 

Auf der an­de­ren Seite werde ich an den Ziel­or­ten so ex­trem her­aus­ge­for­dert, bin im­mer emp­find­li­cher für die Dinge, die ich auch in Deutsch­land viel­leicht schon in mei­nem gan­zen Le­ben nicht er­tra­gen konnte: laute Ma­schi­nen, Au­tos, Ge­stank von Ab­ga­sen, volle und sehr laute Gast­stät­ten (von den we­ni­gen, die ge­öff­net sind), Men­schen­mas­sen, ge­schlos­sene Räume, keine Fens­ter, keine fri­sche Luft, statt­des­sen leichte Schim­mel­feuchte oder Par­fums aus vie­len Quel­len wie Wasch­mit­tel, Sei­fen, Sham­poos, Cremes etc. Ich be­ginne zu­nächst meine Un­te­kunfts­stra­te­gie zu än­dern und bu­che nur noch Ho­tels, da diese de­fi­ni­tiv an­ders mit der Feuch­tig­keit und Kälte um­ge­hen. Wahr­schein­lich sind sie ein­fach durch­ge­hen­der be­legt. Je­den­falls ist seit­dem das Schimmel‑, Ge­ruchs- und Luft­pro­blem ge­löst. Ich be­schäf­tige mich abends wei­ter mit der Su­che nach al­ter­na­ti­ver Wan­der- oder Rei­se­infor­ma­tion für diese Re­gion und finde plötz­lich et­was ganz an­de­res, es­sen­ti­el­les, für mich sehr emotionales.

So­lo­rei­sende mit Neurodiversität?

Ein Ar­ti­kel ei­ner jun­gen Frau, die auf ih­ren Welt­rei­sen Pro­bleme be­kam, die mei­nen so sehr äh­nel­ten, machte mich plötz­lich auf­merk­sam. Ich möchte Dich hier nicht groß da­mit be­läs­ti­gen, aber mir ist in die­ser Si­tua­tion hier und jetzt in die­ser letz­ten Wo­che an der Küste in Por­tu­gal ein­fach klar ge­wor­den, dass meine seit lan­gem be­kannte Dia­gnose, die ich seit Jah­ren in­ner­lich sehr weit von mir weg­zu­hal­ten ver­sucht habe, mit al­ler Wucht, wie der hef­tige Wel­len­schlag des At­lan­tik, auf mich zu­kam. Mir wird hier plötz­lich be­wusst, warum ich diese Dia­gnose so weit von mir fern­hielt. Ei­ner­seits habe ich – ähn­lich ei­nem klas­si­schen In­tro­jekt – diese Per­sön­lich­keits­an­teile von mir so sehr ver­ach­tet, dass ich sie bei an­de­ren und ganz ge­ne­rell ex­trem ab­ge­lehnt habe und da­mit ein­fach nichts zu tun ha­ben wollte. An­de­rer­seits wusste ich und weiß ich bis heute nicht, was ei­gent­lich die Kon­se­quenz sol­cher Dia­gno­sen beinhaltet. 

Die Frage, die ich nie ge­stellt habe, die mir nie­mand in mei­nem Le­ben bis­her be­ant­wor­tete und die sich mir erst heute stellt, ist: Wie gehe ich mit sol­chen An­ders­ar­tig­kei­ten um? Was be­deu­tet diese Dia­gnose für mich im All­tag, im so­zia­len und be­ruf­li­chen Um­feld? In­ter­es­san­ter­weise muss ich fest­stel­len, dass ich mir mein Be­rufs­feld ab­so­lut nach die­sen be­son­de­ren Fä­hig­kei­ten aus­ge­sucht habe, ohne mir des­sen rich­tig be­wusst zu sein. Hier habe ich mir meine Be­ga­bun­gen und Stär­ken be­reits zu Nut­zen ge­macht. Nur meine ei­gene An­er­ken­nung da­für und ei­nen Plan, wie ich mein rest­li­ches Le­ben da­nach aus­rich­ten darf, um mich ge­sund und wohl zu füh­len, fehlt bis heute.

Ich nenne es beim Na­men. Es geht um Neu­ro­sen­si­bi­li­tät, Au­tis­mus, ADHS, Al­e­xithy­mie, ASD und eine mit all­dem ein­her­ge­hende Neu­ro­ty­pi­sche Per­for­mance. Letz­tere über­zeugte so­gar mich selbst so sehr, dass ich mich bis heute nicht so rich­tig kenne, er­kenne und an­er­kenne, son­dern meine Per­for­mance zu ei­nem nicht un­er­heb­li­chen Teil meine ei­gent­li­che Per­sön­lich­keit überschattet.

Viele mei­ner mir na­he­ste­hen­den Men­schen wer­den nun sa­gen: Das hast Du aber doch ge­wusst, El­len. Nein. Ge­ahnt, nicht wahr­ha­ben ge­wollt, ver­drängt und vor al­lem: Hätte ich es wirk­lich ge­wusst, hätte ich mir längst Hilfe ge­holt! Denn ei­nes ist klar: Ab jetzt geht es an­ders für mich wei­ter. Und da­mit be­ginne ich nun schon hier auf mei­ner Reise.

Lang­sa­mes und be­wuss­tes Reisen

Ab jetzt heißt es für mich: Ich werde nicht je­den Tag zu ei­nem an­de­ren Ort wan­dern, dort ein­che­cken und am nächs­ten Mor­gen wie­der aus­che­cken, weil mein Ner­ven­sys­tem das nicht schafft. Ich bleibe min­des­tens zwei Nächte. Ta­ges­aus­flüge und Kurz­wan­de­run­gen vor Ort sind auch sehr schön. Und die ein oder an­de­ren 5 km werde ich be­quem mit dem Bus oder Uber fah­ren. Mein Ruck­sack wiegt mitt­ler­weile ca. 13kg, da ich be­reits nach den ers­ten zehn Ta­gen alle Funk­ti­ons- und Po­ly­es­ter­wä­sche ge­gen reine Baum­woll- und Schafs­woll­wä­sche tau­schen musste, wel­che mehr wie­gen. Darin fühle ich mich aber viel wohler.

Ich werde viel über mich ler­nen. An wel­chen Stel­len ge­rate ich in Stress und was brau­che ich, um nicht in Stress zu ge­ra­ten? Mei­ner Art der Lang­sam­keit an­neh­men. Nicht schnell sein müs­sen, son­dern lang­sam sein dür­fen. Et­was, was ich bis­her aus­schließ­lich als feh­ler­haft, falsch und schlecht in mir ab­ge­spei­chert habe, was es ge­sell­schaft­lich zu ver­hin­dern, über­win­den oder ver­tu­schen galt. Je schnel­ler desto bes­ser, in al­len Be­rei­chen. Das war und ist bei vie­len Men­schen in mei­ner Wahr­neh­mung das Nor­mal, er­stre­bens­wert und gut. Wenn ich lang­sam sein darf, ma­chen mir ei­gent­lich fast alle Dinge Freude und ge­lin­gen viel bes­ser. Mein Sys­tem ver­steht Zeit­druck ein­fach gar nicht, sieht ab­so­lut kei­nen Sinn darin. Mir fal­len so un­end­lich viele Si­tua­tio­nen vom Kin­der­gar­ten über Schule bis zum Stu­dium und der Be­rufs­tä­tig­keit ein, in de­nen ich mit dem, was nor­mal war und von mir ver­langt wurde, über­haupt nicht zu­recht kam.

Au­then­tisch sein

Es wird Zeit, ich selbst sein zu dür­fen. In der nächs­ten Zeit bin ich auf der Su­che nach un­ter­stüt­zen­den Stra­te­gien, ex­ter­nen Struk­tu­ren, Ru­he­pau­sen und so­zia­len Räu­men, die mir hel­fen, mich bes­ser zu ver­ste­hen, mich selbst zu ak­zep­tie­ren und ei­nen au­then­ti­schen Selbst­aus­druck zu fin­den. Ich weiß, dass viele da drau­ßen von mir den­ken, ich hätte all das doch schon. Ich sei doch eine starke Per­sön­lich­keit, die sich zu­dem gut dar­stel­len kann. In Wirk­lich­keit aber habe ich ein­fach sehr viele Rol­len, die mich da­vor schüt­zen, nach au­ßen nicht un­si­cher, selbst­zwei­felnd oder ohne Grund trau­rig zu sein, son­dern in ver­schie­dens­ten Va­ri­an­ten selbst­si­cher und stark zu er­schei­nen. Diese Rol­len zu spie­len, sehr schnell zu re­agie­ren, das kann ich wirk­lich gut, macht mich aber zu­neh­mend in­ner­lich sehr un­glück­lich. Da­von möchte ich Ab­schied neh­men. Statt­des­sen freue ich mich auf mich selbst, keine Ah­nung, was da kom­men wird.

Das ist das vor­läu­fige Er­geb­nis der letz­ten Wo­che. Ich bin in Santa Cruz, Sil­veira, 60 km nörd­lich von Lis­sa­bon, 50 da­von ge­wan­dert. Mor­gen geht es Rich­tung Pe­ni­che wei­ter. Wil­der At­lan­tik. So­lange es mir gefällt.

Ich wün­sche Dir ei­nen gu­ten Wo­chen­start! Bleib sta­bil und fühl Dich herz­lich umarmt! 

Bis gleich,

Blümelein

El­len