Was lange währt

Sonn­tag, der 30.03.2025 -> Eng­lish version

Es ist Frei­tag, der 21.03.2025, 16:20 Uhr. Die Tür un­se­rer Ma­schine am Flug­ha­fen Köln/​Bonn öff­net sich, ein süß­fri­scher war­mer Wind weht in die Ka­bine. Ich muss spon­tan lä­cheln. Hatte ich in Ver­gan­gen­heit schon ein­mal der­art po­si­tive Ge­fühle beim Ein­at­men die­ser hei­mat­li­chen Luft? Ich weiß es nicht, kann mich nicht er­in­nern. Die Sonne scheint, und es ist deut­lich wär­mer als im süd­li­chen Por­tu­gal, das ich ge­rade ver­las­sen habe. Meine Stim­mung hebt sich. Die­ses Lä­cheln fühlt sich selt­sam un­na­tür­lich an, weicht mir aber den gan­zen Tag nicht mehr von der Seite.

Nie­mand holt mich ab. Ich habe alle Zeit der Welt, mein Ge­päck und mich wie­der ein­zu­sam­meln. Schlen­dere durch den Flug­ha­fen, warte auf eine S‑Bahn, die mich ge­müt­lich ins Au­en­land, meine be­schau­li­che neue Hei­mat, fährt. Es ist warm, grün und sehr ru­hig. Ich bin ent­spannt. Schon ei­nen Tag spä­ter ma­che ich mit mei­nem Part­ner eine un­se­rer klei­nen Sams­tag-Wan­de­run­gen, zwei Tä­ler und Hü­gel wei­ter. Ei­nen hal­ben Tag sind wir drau­ßen im Au­er­wald, und ich ge­nieße hier die Sonne, Wärme, Bäume, Blü­ten, Vo­gel­stim­men und sturm­freie Winde. Bes­ser kann ein An­kom­men nicht sein.

Die erste Wo­che ver­geht im Flug, es fühlt sich noch im­mer für mich so an, als wäre ich nicht rich­tig da bzw. als seien höchs­tens zwei Tage ver­gan­gen, seit­dem ich wie­der hier bin. Vie­les fühlt sich neu und un­ge­wohnt an, ob­wohl es ei­gent­lich sehr ver­traut ist. Wie­der ein­mal bin ich er­staunt, dass die­sel­ben Dinge im Le­ben so viele ver­schie­dene Ge­sich­ter ha­ben kön­nen, so­bald ich selbst meine Per­spek­tive ge­än­dert habe. 

Bis heute habe ich keine ein­zige Se­kunde be­dau­ert, die (vor­läu­fige) Rück­reise von mei­ner Wan­de­rung am At­lan­tik an­ge­tre­ten zu ha­ben. Die Wet­ter­lage in Por­tu­gal und Spa­nien ist in den letz­ten Wo­chen dra­ma­tisch. Wer die Nach­rich­ten ver­folgt, hat wie ich er­fah­ren, dass es viele Un­fälle und so­gar Tote vor al­lem am At­lan­tik auf­grund der Un­wet­ter gab. Es war al­lein aus die­sen Grün­den voll­kom­men rich­tig, die Wan­de­rung vor­erst ab­zu­bre­chen und lie­ber im Rhein-Sieg-Kreis bzw. im Wes­ter­wald zu wandern. 

Meine Le­bens­si­tua­tion in Wind­eck ist da­für wie ge­schaf­fen. Das Ge­fühl, hier in be­kannte Rou­ti­nen glei­ten zu kön­nen und zu dür­fen, ist sehr er­hol­sam. Ge­sprä­che mit mei­nem Part­ner, ge­mein­sa­mes Ko­chen, Jog­gen am Mor­gen, Spa­zier­gänge am Abend, Sauna am Frei­tag, Wan­de­rung am Sams­tag. Eine schnur­rende Katze am Ka­min, al­les fast schon zu schön und be­ru­hi­gend. Ich danke Him­mel und Erde für die­ses Daheim.

Lang­fris­tige Ziele

Ei­nige von mei­nen Weggefährt*innen fra­gen sich, warum ich die­ses Dia­gno­se­ver­fah­ren über­haupt ma­chen möchte. Ver­ste­hen mei­nen Wunsch nach Klä­rung und Hilfe nicht, nicht das Ziel mei­ner Be­stre­bun­gen. Erste Arzt­be­su­che und An­mel­de­for­mu­lare für AD(H)S – (und an­dere Neu­ro­di­ver­si­täts-) Dia­gno­se­ver­fah­ren habe ich be­reits hin­ter mir. Hier in­ter­es­siert mich vor al­lem, wer aus mei­nem Um­feld es wann, wo und wie ge­schafft hat, ein Dia­gno­se­ver­fah­ren bzw. ei­nen ent­pre­chen­den The­ra­pie­platz zu be­kom­men. Na­tür­lich ist mir nicht ent­gan­gen, dass der Be­darf nach sol­chen Plät­zen in un­se­rer Ge­sell­schaft nicht von den vor­han­den­den An­lauf­stel­len und Pra­xen ab­ge­deckt wird und es schwie­rig wer­den könnte, vor al­lem zeit­nah eine Mög­lich­keit zu er­hal­ten. Aber ehr­lich ge­sagt, ich finde ei­gent­lich das Meiste nicht so wirk­lich leicht im Le­ben. Was än­dert diese Tat­sa­che daran, es nicht trotz­dem zu probieren? 

Ich er­lebe ta­ge­lang Dau­er­schlei­fen auf Mail­bo­xen, An­mel­de­ver­fah­ren, die nicht funk­tio­nie­ren, War­te­lis­ten und War­te­lis­ten für War­te­lis­ten. Ein biss­chen frage ich mich nach zwei Ta­gen, warum das ei­gent­lich so ist und ob es wirk­lich so sein muss, aber ver­werfe Ge­dan­ken in diese Rich­tung wie­der sehr schnell. Oft in mei­nem Le­ben hat mein Um­feld mir er­klärt, dass et­was, was mir wich­tig war, über­lau­fen oder un­mög­lich zu be­kom­men sei. Und ebenso oft habe ich trotz­dem ei­nen Weg ge­fun­den. Da­her ver­su­che ich mich nicht mit dem zu be­schäf­ti­gen, was nicht funk­tio­niert, son­dern dar­auf zu hö­ren, was funk­tio­niert. Ich habe mich in die­ser Wo­che bei drei gro­ßen Ge­mein­schafts­pra­xen für Psy­cho­the­ra­pie und AD(H)S – Dia­gno­se­ver­fah­ren im Köln/​Bonner Raum vor­stel­len und an­mel­den können. 

Ich wün­sche mir lang­fris­tig we­ni­ger Stress im All­tag, ru­hi­gere Schlaf­pha­sen, the­ra­peu­ti­sche Un­ter­stüt­zung und ge­sunde Wege, meine so­zia­len und be­ruf­li­chen Le­bens­si­tua­tio­nen län­ger als 1,5 Jahre zu hal­ten, Dinge zu Ende zu brin­gen. Die Aben­teu­er­reise beginnt.

So­lang ich kann…

Seit nun fast ei­nem Jahr ha­ben mein Part­ner und ich kein Auto mehr, hier auf dem Land, was mich so man­chen Nerv ge­kos­tet hat. Wir ha­ben uns ab und an ein Auto ge­lie­hen und im­mer wie­der ge­schwankt zwi­schen dem An­spruch, um­welt­be­wuss­ter le­ben zu wol­len und keine un­nö­ti­gen Res­sour­cen zu ver­schwen­den, dem re­gen Aus­nut­zen des Deutsch­land-Ti­ckets, re­gel­mä­ßi­gen Wan­der-Ein­käu­fen mit Ruck­sä­cken und an­de­rer­seits häu­fig mit der Ver­zweif­lung, auf dem Land schlecht ohne Auto le­ben zu kön­nen. Jeg­li­che Spon­ta­ni­tät ist hier ohne Auto nicht mög­lich. Und nun ist es so­weit. Nach mo­na­te­lan­ger Pla­nung, Be­stel­lung und Rea­li­sie­rung: Nächste Wo­che kommt Cherry, un­ser ers­tes ge­mein­sa­mes neues Auto, nach Hause. Ein Fiat 500e, kirsch­rot, mit ei­ner drit­ten Tür als Son­der­an­fer­ti­gung. Ich freue mich auf mehr Frei­heit und Flexibilität. 

Viel­leicht werde ich, so­bald ich weiß, wie der Weg zu ei­ner AD(H)S – Dia­gnose und ent­spre­chen­den Psy­cho­the­ra­pie für mich lau­fen wird, meine Fern­wan­de­rung wie­der auf­neh­men. Zum Alt­lan­tik zu­rück­fah­ren und dort an­knüp­fen, wo ich auf­ge­hört habe. Aber bis da­hin werde ich ein­fach so oft und so viel wan­dern, wie ich kann. Das hilft mir sehr, mit den Fü­ßen auf dem Bo­den zu blei­ben und meine Ge­dan­ken nicht ver­rückt spie­len zu las­sen. Meine Um­ge­bung könnte auch hier für diese Frei­zeit­be­schäf­ti­gung nicht bes­ser ge­schaf­fen sein. Der Rhein-Sieg-Kreis und der Wes­ter­wald be­gin­nen di­rekt vor mei­ner Haus­tür, aber auch das Sau­er­land mit sei­nem schö­nen Mit­tel­ge­birge ist 20 Au­to­mi­nu­ten ent­fernt, also sehr nah. Das War­ten auf eine Dia­gnose und ei­nen The­ra­pie­platz ist für mich da­durch et­was einfacher. 

Ich danke Dir und al­len Men­schen, die mir in der letz­ten Wo­che zu­ge­hört ha­ben und mit Zu­spruch und Tipps bei­seite stan­den. Es ir­ri­tiert und be­rührt mich, wie un­ter­schied­lich die Re­ak­tio­nen auf meine Bei­träge in den letz­ten zwei Wo­chen aus­fie­len. Jede und je­der und alle da­zwi­schen und au­ßer­halb: Danke Dir von Her­zen dafür.

Ich freue mich, wenn Du hier meine Aben­teu­er­reise “Le­ben” mit mir wei­ter ver­folgst und wün­sche Dir erst­mal ei­nen gu­ten Wochenstart! 

Bleib sta­bil und fühl Dich herz­lich umarmt! 

Bis gleich, 

Blümelein

El­len