Nächste Schritte…

Sonn­tag, der 23.03.2025 -> Eng­lish version

Es ist Mon­tag mor­gen, 17. 03. in Stanta Cruz, Sil­veira. Mein Ho­tel ist er­fah­rungs­ge­mäß leer, die meis­ten por­tu­gie­si­schen Tourist*innen, die ich in den letz­ten Wo­chen er­lebte, rei­sen sonn­tags ab. Ich liebe die Stim­mung in lee­ren Ho­tels, es ist ru­hig, das Per­so­nal ent­spannt und meis­tens ge­sprä­chi­ger als sonst. Heute fing der Tag lei­der schon am Mor­gen mit hef­ti­gen Ge­wit­tern an, bis ges­tern am frü­hen Abend war das ganze Wo­chen­ende tro­cken und son­nig ge­blie­ben. Die Sonne, so­bald sie hier scheint, ist so heiß und an­ge­nehm wär­mend. Wirk­lich ge­nau das, was ich mir ge­wünscht habe.

Meine in­ne­ren The­men, die mit der letz­ten Wo­che so un­er­war­tet her­ein­bra­chen, be­glei­ten mich in die­ser Wo­che un­ent­wegt. Zu­sätz­lich bleibt das Wet­ter die ganze Wo­che über un­fass­bar un­be­stän­dig, stür­misch und ge­fähr­lich. Zum Wan­dern mitt­ler­weile na­hezu un­mög­lich. Meine ge­plante Fern­wan­de­rung also, wei­ter in Rich­tung Nor­den zu zie­hen, ist in die­sen Ta­gen nicht nur durch mei­nen psy­chi­schen Zu­stand in Frage gestellt.

Was soll ich tun?

Ent­schei­dun­gen zu tref­fen fällt mir in den letz­ten Ta­gen viel schwe­rer, als ich es ge­wohnt bin. Je mehr Op­tio­nen es gibt, desto über­for­der­ter bin ich. Für ge­wöhn­lich in­for­miere ich mich gerne und auch sehr in­ten­siv, und am Ende ent­scheide ich mich meis­tens schnell. Mo­men­tan je­doch ge­rät al­les in mir ir­gend­wie ins Wan­ken. Oft bre­che ich Ge­dan­ken ab, in de­nen ich neue In­for­ma­tio­nen zu­sam­men fas­sen und eine Ent­schei­dung tref­fen möchte, be­komme schnell Kopf­schmer­zen und kann ein­fach gar nicht mehr klar den­ken. Werde zitt­rig, habe Pro­bleme, mir meine Schuhe zu­zu­bin­den oder Knöpfe zu schließen.

Seit Ta­gen rede ich mit nie­man­dem. Ein jun­ger Mann spricht mich statt­des­sen heute bei ei­nem mei­ner Spa­zier­gänge am Strand plötz­lich an und sagt, ich hätte so eine Aura, er hielte mich für et­was Be­son­de­res und möchte mit mir spre­chen. Ob das für mich pas­send sei. “To be ho­nest, I don’t want to talk with you, it’s a little bit weird and I feel un­com­for­ta­ble. Sorry.” Da­mit ver­ab­schiede ich mich von dem jun­gen Mann, der aus­sah, wie Je­sus Chris­tus per­sön­lich. War das zu hart? War das dumm von mir? Ob­wohl ich grund­sätz­lich seit Ta­gen nie­man­den zum Spre­chen habe, hielt ich das für die rich­tige Ent­schei­dung, da ich mich selbst ge­rade ver­wirrt ge­nug fühle.

Meine Ge­dan­ken krei­sen: Die Wan­de­rung hier und jetzt ab­zu­bre­chen, scheint mir über­trie­ben, ob­wohl ich mich ins­ge­samt sehr un­wohl fühle. Die An­stren­gung, von hier aus, von ei­nem die­ser Orte, die mir wie im Nichts, un­wirk­lich wie in ei­ner Traum­welt vor­kom­men, meine Rück­reise zu or­ga­ni­sie­ren, über­for­dert mich. Alle Ver­kehrs­ver­bin­dun­gen füh­ren zu­rück nach Lis­sa­bon, wo­her ich un­ter ziem­li­chen An­stren­gun­gen ge­lau­fen komme. Der Ge­danke kommt mir un­sin­nig vor, und ich schiebe ihn ta­ge­lang beiseite.

Be­droh­li­cher Wellengang

Meine heu­tige Wan­der-Etappe von Santa Cruz nach Pe­ni­che fällt ent­gül­tig aus. Es don­nert. Ich nehme da­her die ganze Stre­cke mit dem Uber. Eine junge sym­pa­thi­sche Frau fährt mich. Die Fahrt dau­ert 45 Mi­nu­ten, in de­nen ich zum ers­ten Mal seit län­ge­rem ein Ge­spräch führe. Das fühlt sich gut an.

Ein Tag wie Sommerurlaub

Die nächs­ten zwei Tage ver­bringe ich in Pe­ni­che, eine Stadt, eher wie ein gro­ßes Fi­scher­dorf, ge­le­gen in der Pro­vinz Estre­ma­dura. Sie be­kam ih­ren Na­men von See­fah­rern aus dem An­ti­ken Grie­chen­land, da sie an den Ort “Pho­inix” auf Kreta er­in­nert. Und sie ist be­kannt für ihre Surf­wel­len – je­doch auch als welt­weit zweit­größ­ter Um­schlags­platz für Sar­di­nen. Wie eine Ku­gel wölbt sich Pe­ni­che aus dem Fest­land her­vor, und ich dachte beim Be­tre­ten, sie fühlt sich eher wie eine In­sel an. Zu mei­nem Er­stau­nen er­fahre ich: Das war sie tat­säch­lich einst. Be­reits von Ne­an­der­ta­lern be­wohnt, bil­dete sich zwi­schen ihr und dem Fest­land ab dem 15. Jahr­hun­dert eine na­tür­li­che Land­ver­bin­dung. Auf die­ser Land­ver­bin­dung liegt mein Ho­tel, di­rekt am Surf­strand. Hier wohne ich in ei­nem sehr spor­ti­ven Surf­ho­tel und fühle mich un­ter den Surfer*innen ein biss­chen fremd.

So spa­ziere ich rund um die eins­tige In­sel, mit ei­nem Fort mit Burg, eine Alt­stadt ganz ohne Neu­bau­ten, die si­cher im Som­mer sehr ro­man­tisch sein kann. Ich finde mich plötz­lich in ei­ner mit­tel­al­ter­li­chen At­mo­sphäre wie­der. Die Stra­ßen sind to­tal leer, die Ca­fés ge­schlos­sen, ein paar Knei­pen und we­nige Re­stau­rants sind an die­sen rauen Ta­gen of­fen. Die Kais sind ab­ge­sperrt mit rot­wei­ßen Bän­dern und aus der Ferne sehe ich be­droh­lich hohe, rie­sige Wel­len über die eh schon ho­hen Mau­ern samt Schutz­wäl­len in den Ha­fen schie­ßen. Es macht mir Angst. Ich ver­su­che die Men­schen zu be­ob­ach­ten, die mir be­geg­nen, kann aber nur düs­tere Ge­sich­ter se­hen, die ich lie­ber nicht an­spre­chen möchte. Am Ende ei­ner Straße schaue ich wie­der ein paar ex­trem ho­hen be­droh­li­chen Wel­len zu und er­bli­cke um die Ecke ne­ben mir, auf ei­ner klei­nen Mauer ste­hend, plötz­lich viele Por­tu­gie­sen, die in Rich­tung der Wel­len schauen, laut dis­ku­tie­ren und wild mit den Hän­den ges­ti­ku­lie­ren. Als ich ei­nen Jün­ge­ren von ih­nen auf die Wel­len an­spre­che, gibt er mir kurz und knapp zu ver­ste­hen, das dies auch für sie eine un­ge­wöhn­li­che und et­was Be­sorg­nis er­re­gende Si­tua­tion sei.

Mit et­was Un­be­ha­gen ver­lasse ich schnell die­sen Teil der In­sel. Es wird Abend, ich gehe schnur­stracks in mein Sport­ho­tel zu­rück. Dort an­ge­kom­men, be­komme ich mit­ge­teilt, dass ich das Ho­tel bes­ser nicht mehr ver­las­sen solle, es gäbe von der Re­gie­rung die Emp­feh­lung, ab 18 Uhr die Häu­ser nicht mehr zu verlassen.

Am nächs­ten Mor­gen scheint die Sonne, es ist nor­mal, win­dig und schö­nes Wet­ter. Ich ma­che eine Ta­ges­wan­de­rung in die nächs­ten zwei Buch­ten und wie­der zu­rück. Da­bei ge­nieße ich blauen Him­mel, warme Son­nen­strah­len, star­ken Wel­len­gang, fei­nen Sand und viele, wirk­lich sehr viele wun­der­bare Surfer*innen, wie sie auf den Wel­len reiten.

An die­sem son­ni­gen Tag bis zum Abend höre ich al­ler­dings in wirk­lich je­dem Café, Re­stau­rant und kur­zem Strand­ge­spräch, dass die­ser Tag für die nächs­ten zwei Wo­chen der letzte Son­nen­tag ge­we­sen sei. OMG, schlim­mes Weit­ter hatte ich ja be­reits schon die letz­ten zwei Wo­chen… Meine Un­si­cher­heit für die na­he­lie­gende Zu­kunft, ja nur für die nächs­ten Tage kehrt zurück.

Al­les ist, wie es ist

Ich führe noch am sel­ben Abend län­gere Ge­sprä­che mit Deutsch­land, mit mei­nem Part­ner und mei­ner The­ra­peu­tin. Im Laufe der Stun­den lasse ich mehr und mehr ein Ge­dan­ken­spiel zu: Was wäre, wenn ich diese Wan­de­rung un­ter­bre­che, nach Deutsch­land fahre, und mich erst­mal um meine psy­chi­sche Ge­sund­heit, meine in­nere Sta­bi­li­tät küm­mere? Kaum habe ich die­sen Satz in­ner­lich laut aus­ge­spro­chen, bin ich ru­hi­ger, geht alle sehr ein­fach. Ich ver­ein­bare von hier aus Arzt­ter­mine in Köln, bu­che den nächs­ten Flug nach Köln­Bonn, ein Ho­tel für zwei Tage in und für den nächs­ten Tag ei­nen Bus nach Lissabon.

Freund­lich sich selbst ge­gen­über sein

Ent­spannt schlafe ich ein. Ob­wohl mir ei­nige mei­ner di­gi­ta­len Weggefährt*innen schrei­ben oder sa­gen, dass ich mich auf kei­nen Fall wie eine Ver­sa­ge­rin füh­len sollte oder dass es etwa mu­tig sei, die Reise zu un­ter­bre­chen, emp­finde ich das gar nicht. Ich habe Zwei­fel, ob ich ver­stan­den werde, aber keine Zwei­fel ob der Wahr­haf­tig­keit an die­sem Punkt. Sel­ten war ich mir in mei­nem Le­ben so si­cher, dass ich Hilfe brau­che und die­sen neuen Weg ein­schla­gen muss. Na­tür­lich möchte ich nie­man­den ent­täu­schen, aber tat­säch­lich habe ich diese Reise ur­sprüng­lich ge­nau des­we­gen ma­chen wol­len: Um ei­nen Weg zu mir zu fin­den, zu er­grün­den, was mich daran hin­dert, ich zu sein. Zu­ge­ge­ben, ich habe nicht ver­mu­tet, dass die Welle der Er­kennt­nis so hef­tig und schnell ein­setzt. Aber: Al­les ist, wie es ist. Ich nehme die Her­aus­for­de­rung an. Ich möchte Dir sa­gen: Es tut mir leid, dass meine äu­ßere Reise nun zu­nächst un­ter­bro­chen ist. Meine in­nere Reise je­doch be­ginnt ge­rade erst richtig.

Lis­sa­bon: An­hal­tene Un­wet­ter­war­nun­gen und de­ren Realität

Zu­rück in Lis­sa­bon er­lebe ich zwei Tage lang die meiste Zeit des Ta­ges wirk­li­che Jahr­hun­dert-Un­wet­ter. Meh­rere tau­send Feu­er­wehr­ein­sätze in der Nacht hal­ten mich tat­säch­lich fast die ganze erste Nacht wach. Ich ge­nieße trotz al­lem tags­über die Stadt, da sie ein­fach viel lee­rer ist, als ge­wöhn­lich. Mit Re­gen­ja­cke, gu­ten Schu­hen und Re­gen­schirm aus­ge­stat­tet, laufe ich die Hü­gel rauf und run­ter und ge­nieße die At­mo­sphäre ei­nes ver­reg­ne­ten und ver­win­de­ten, zum Teil lei­der et­was ver­wüs­te­ten Lissabons.

Ei­gene Be­dürf­nisse wahrnehmen

Ein letz­ter Mor­gen am Frei­tag im Früch­stücks­raum mei­nes wun­der­ba­ren Ho­tels “Pi­coas”, mit Aus­blick auf die Stadt in ih­ren pas­tell­far­be­nen Klei­dern in rosa, hell­grün und gelb. Ein letz­tes “Tudo bem, muito obri­gada, até a pró­xima e tudo de bom!”

Boar­ding com­ple­ted.” Wir be­fin­den uns be­reits im Ab­flug, da hält der Flie­ger an. Die Stadt­ver­wal­tung Lis­sa­bon ver­bie­tet we­gen ak­tu­el­ler Un­wet­ter­lage ei­nen Ab­flug. Wir war­ten also noch ein­mal we­gen Un­wet­ter. Eine knappe Stunde steht al­les still. Bis zum Schluss be­glei­tet mich das Un­wet­ter in Por­tu­gal. Ich bin ihm un­fass­bar dank­bar, denn nur da­durch bin ich hier und jetzt, so schnell, schon nach vier Wo­chen, auf dem di­rek­ten Weg zu mir selbst.

Und der Blog?

Und was ist mit uns, mit die­sem Blog und mei­nen Bei­trä­gen? Es wird wei­ter ge­hen mit der in­ne­ren Reise und ak­tu­ell wei­ter mit mir und dem Thema “Neu­ro­di­ver­si­tät” und ei­nem ent­spre­chen­dem Dia­gno­se­ver­fah­ren für Er­wach­sene mit über 50 Jah­ren Le­bens­al­ter. Wenn Du magst, dann bleibe da­bei. Wenn Dich mehr die Reise an der West­küste Eu­ro­pas in­ter­es­siert, dann musst Du noch ein biss­chen war­ten, bis ich diese fort­setze. Vom süd­lichs­ten Zip­fel, dem Cap Vi­cente bis Pe­ni­che bin ich ge­kom­men, habe ins­ge­samt an 19 Or­ten ge­wohnt und bin al­les in al­lem in den letz­ten vier Wo­chen knapp 350 km ge­wan­dert. So­weit zu­nächst, von den ins­ge­samt ca. 3000 km der at­lan­ti­schen West­küste Eu­ro­pas. Meine in­nere Reise geht nun erst ein­mal vor. Die Küs­ten­wan­de­rung werde ich viel­leicht ir­gend­wann wie­der auf­neh­men. Erst­mal je­doch bin ich am Sams­tag glück­lich in Wind­eck an­ge­kom­men, in mei­nem ge­lieb­ten Rhein-Sieg-Kreis mit viel Ruhe und Natur.

Melde Dich gerne per Mail, wenn Du ei­nen gu­ten Tipp be­züg­lich Dia­gno­se­ver­fah­ren zur Neu­ro­di­ver­si­tät spe­zi­ell für Er­wach­sene hast. Hier ist die For­schung in den letz­ten Jah­ren er­heb­lich ver­bes­sert wor­den, aber es ist nicht ein­fach, das Rich­tige für sich selbst zu fin­den. Ich bin für je­den Tipp dankbar.

Ich wün­sche Dir von Neuem ei­nen gu­ten Wo­chen­start! Bleib sta­bil und fühl Dich herz­lich umarmt!

Bis gleich,
El­len